Eine Frage, die ich mir schon seit längerem stelle, ist folgende: Wenn Chinesen zu einer Sehenswürdigkeit reisen, dann müssen unbedingt Fotos gemacht werden. Allerdings in geschätzten 98% der Fälle nicht von der Sehenswürdigkeit an sich, sondern von sich selbst vor der Sehenswürdigkeit. Warum ist das so? Eine Antwort kann ich auch nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Beschäftigung mit dem Reich der Mitte nicht geben. Aber interessant zu beobachten ist es allemal. Ein paar der Beobachtungen will ich hier nun niederschreiben.
Ganz vorweg eine einschränkende Bemerkung: Natürlich verallgemeinere ich. Es gibt auch Chinesen, die kunstvoll fotografieren. Es gibt natürlich auch Chinesen, die sich bei einer Sehenswürdigkeit oder in schöner Landschaft Zeit zu bewundern derselben nehmen. Aber…
In den meisten Fällen spielen sich in etwa folgende Szenarien ab.
Beispiel 1:
Bus hält bei einer Sehenswürdigkeit. 30 Chinesen kommen heraus und machen Bilder von der Sehenswürdigkeit – am besten mit jedem einzelnen der 30 Leute davor. Gegebenenfalls auch in kleineren und größeren Gruppen. Das ganze dauert ein paar Minuten. Anschließend geht es für eine erheblich längere Zeit in das nächste Einkaufszentrum, um dort den Umsatz anzukurbeln.
Beispiel 2:
Eine kleine Gruppe junger Chinesen vor dem Tiananmen, dem Tor des Himmlischen Friedens, in Peking. Mit kompakten Digitalkameras werden die einzelnen Gruppenmitglieder vor dem berühmten Tor abgelichtet. Mal in besonders coolen, mal in besonders albernen Posen. Immer noch besonders beliebt: Zeige- und Mittelfinden zum Victory „V“.
Beispiel 3:
Die Delegation von Parteikadern oder älteren Wirtschaftsvertretern aus der Provinz tritt zum Gruppenfoto an. Dominiert wird das Bild von äußerst biederen Männern in grauen oder dunkelblauen Anzügen mit Slippern an den Füßen. Ein Großteil versucht sein schütter werdendes Haar zu verbergen, indem lange Strähnen von links nach rechts über die kahlen Flächen gelegt werden. Man steht brav und ohne erkennbare Körperspannung. Im Hinterkopf das Wissen, dass gleich wieder ultra-langweiligen Reden zugehört werden muss und die Hoffnung, dass es danach etwas leckeres zu essen gibt…
Beispiel 4:
Nicht fiktiv, sondern mir tatsächlich passiert. Eine Gruppe liebenswerter alter Damen vom Lande im Kaiserpalast. Eine der Frauen will ihre Kameradinnen fotografieren (wohl gemerkt, wieder die Menschen, nicht die Sehenswürdigkeit). Ich gehe zu ihr hin und erkläre ihr freundlich, dass sie das Objektiv der Kamera lieber in Richtung Ihrer Freundinnen als auf sich selbst richten sollte…
Machen die meisten Europäer das eigentlich auch? Nehme ich es nur nicht so sehr wahr? Oder ist es wirklich ein chinesisch/asiatisches Phänomen? Über soziologische, psychologische oder auch rein spekulative Antworten wäre ich sehr dankbar.