Ein Besuch auf dem heiligen Berg Taishan. Es ist ein Feiertag und so hat sich eine große Menge Touristen aufgemacht, den Berg zu Fuß zu erklimmen. So will es die Tradition. Selbst Kaiser haben dies getan. Oben angekommen sieht man erschöpfte aber zufriedene Menschen. Nachdem sie sich ein wenig erholt haben, schauen sie sich die Sehenswürdigkeiten an, die der Taishan auf seinem Gipfel-Plateau zu bieten hat. Dazu gehören neben einigen Tempeln vor allem Inschriften, die in die Felsen gearbeitet wurden. Es werden Unmengen an Fotos gemacht. Hauptsächlich von sich selbst vor solchen Inschriften. Erstaunlich wenig Beachtung scheint hingegen die Landschaft als solche zu finden, obwohl diese wirklich sehenswert ist.
Was wir hier auf dem Taishan erleben, erlebt man in China auch sonst sehr oft: Für Chinesen scheint ein „Scenic-Spot“ erst dann wirklich sehenswert zu sein, wenn Menschen irgendeinen Einfluss auf ihn genommen haben. Ein kleiner Pavillon auf einem Berg, in dem einst ein Dichter gesessen haben soll, kann mehr Anziehungskraft haben, als die spektakuläre Landschaft zu deren Betrachtung der Pavillon einst erbaut wurde.
Der Wüstenwald am Nordrand der Taklamakan sollte mit seinen uralten und bizarren Bäumen an sich schon einen Besuch wert sein. Aber auch hier scheint die Devise zu gelten, dass man mehr chinesische Touristen anziehen kann, wenn es etwas von Menschenhand erschaffenes darin gibt. In diesem Fall wurde eine Schmalspur-Bahn durch den Wald gebaut, deren kunterbunte Waggons fatal an einen Vergnügungspark erinnern und beim besten Willen nicht in diese Umgebung passen.
Gut erhaltene Altstädte werden abgerissen, um eine neue (!) Altstadt zu bauen. Zum Beispiel in Shanhaiguan – dort wo die Große Mauer am Meer endet. Die alte Altstadt war zwar authentisch, aber eben alt und vielleicht ein wenig heruntergekommen. Es wirkte beim besten Willen nicht so, als würde hier Wohlstand herrschen. Alles in allem aber eine Altstadt, die westliche Touristen durchaus spannend und interessant finden würden. Die meisten Gäste kommen jedoch aus dem Inland und denen wird nun eine „Altstadt“ geboten, die zwar irgendwie einen alten Gebäudestil kopiert, die aber weder alt ist noch annähernd so aussieht, wie die alte Altstadt. Siehe auch „China neue Altstädte“
Warum scheint es so zu sein, dass die Chinesen (verallgemeinert betrachtet) viel weniger Interesse an unverfälschten Dingen zu haben scheinen, als Europäer? Ich weiß es nicht, doch als halbwegs plausible aber sehr gewagte Theorie ist mir Folgendes eingefallen: Individualität ist in China bei weitem kein so hohes Gut wie in Westeuropa. Auf Reisen übertragen bedeutet Individualität auch Raum für eigene Entdeckungen und ganz private Erlebnisse. Diese finden sich in einem kaum zugänglichen Teil einer verwinkelten Altstadt oder bei einer Wanderung auf den weniger ausgetretenen Pfaden eines Gebirges natürlich eher als in einem Disneyland. Vielleicht suchen wir Europäer deswegen weniger oft solch „künstliche“ Orte auf. Bei Chinesen ist das gemeinschaftliche Erlebnis aber womöglich wichtiger. Und so fotografiert sich jeder dort, wo es auch die anderen tun. Und diese tun dies wiederum besonders gerne an Orten, die sowieso schon berühmt sind.
Also: Alles reine Spekulation, doch der Eindruck, dass Chinesen besonders gerne das besuchen, was irgendwie von Menschenhand beeinflusst wurde, bleibt…